Kickertische im Büro, flexible Arbeitszeiten, legere Garderobe, Home-Office-Regelungen und Co-Working – der Trendbegriff „New Work“[efn_note]Das Lexikon der „Gründerszene“ definiert „New Work“/„Neue Arbeit“ als Konsequenz der Globalisierung und Digitalisierung auf die Arbeitswelt. Der Begriff wurde vom austro-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann geprägt. Im Zentrum steht die Frage, wie sich unsere Arbeitsstrukturen ändern müssen, um dem Wandel von der Industrie- zur Wissenschaftsgesellschaft standhalten zu können. Als zentrale Werte beschreibt „Gründerszene“ „die Selbstständigkeit, die Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft“ und differenziert klar zwischen starren Arbeitsmethoden der Vergangenheit und einer kreativen, auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit angelegten neuen Arbeitswelt. Agilität ist nur einer von vielen Aspekten in dieser Philosophie.[/efn_note] ruft eine Menge Assoziationen hervor. Oft haben sie eines gemeinsam: Sie gehen die Herausforderungen, vor die der digitale Wandel Unternehmen stellt, sehr oberflächlich an. Gerade in den Branchen, die besonders von den Umwälzungen betroffen sind – wie das Banking –, hilft es nicht, Pflaster auf tiefe Wunden zu kleben.
Jenseits abgenudelter Begriffe wie „Feel Good Management“ und „Life-Work-Balance“ hat sich die niederländische Bank ING der Ära „Neue Arbeit“ auf für den Finanzsektor bahnbrechende Weise gewidmet. Das Management des global aufgestellten Institutes hat verstanden, dass es nicht damit getan ist, die bestehenden Prozesse im Unternehmen zu digitalisieren. Was verändert werden muss, ist die gesamte Arbeitsstruktur einer Firma, um sich dem sich ständig wandelnden Markt stellen zu können. Von der Wandlung zu einer agilen Organisation (oder auch: agile Transformation) ist im New-Work-Sprech die Rede, wenn ein Unternehmen sich von klassischen hierarchischen Strukturen verabschiedet und neue Methoden des Projektmanagement etabliert.
Seit 2015 arbeitet die ING agil. Was hat sich konkret geändert? Diese Grafik zeigt es:
So sieht die neue Projektmanagement-Struktur in der ING-Zentrale in Amsterdam aus.
Ein „Squad“ ist ein interdisziplinäres Team, das sich exklusiv einem Thema widmet. Es gibt zum Beispiel einen Squad für Hypothekenanträge oder einen für die unternehmenseigene Suchmaschine. In jedem Squad sind dann mal mehr, mal weniger Experten aus Bereichen wie Marketing, User Experience, Datenanalyse und IT. Das Äquivalent zum Teamleiter von früher ist der „Product Owner“, der aber – so betont die ING in einem Unternehmensvideo zur neuen Arbeitsweise – nicht der Chef ist. Alle Mitarbeiter, die einer Disziplin wie IT zuzuordnen sind, verstehen sich wiederum als „Chapter“, was analog ist zum Beispiel zur früheren Fachabteilung. Und zu guter letzt bilden „Squads“ und „Chapters“ zu einem bestimmten Oberthema zusammen den „Tribe“. Ein „Tribe Leader“ behält den Überblick und ist die Organisationsschnittstelle zu allen anderen Tribes. Und ein Agile Coach unterstützt alle Mitarbeiter des „Tribes“ beim agilen Arbeiten.
Diese Struktur soll sicherstellen, dass die autonom organisierten „Squads“ und „Chapters“ koordiniert werden.
Weder die Struktur noch die Begriffe hat sich die ING selbst ausgedacht. Sie wurden inspiriert von der agilen Organisation des Musik-Streaming-Unternehmens Spotify. Dies war eines der Unternehmen, deren völlig andere Arbeitsweise sich die ING-Vorstände anschauten, als sie erkannt hatten, dass sie in ihrer bisherigen Form dem Druck des digitalen Wandels und der Konkurrenz durch Fintechs und GAFA nicht würden standhalten können. Einen direkten finanziellen Grund für eine Wandlung soll es übrigens nicht gegeben haben; da war nach Aussagen von ING-Executives alles im Lot, als die Entscheidung zur Transformation fiel.
Bei ING machte man jedenfalls keine halben Sachen: „Wenn man einen Change-Prozess anstrebt, um effizienter zu werden, dabei aber eine Optimierung um fünf Prozent anstrebt, wird das Ergebnis inkrementell sein“, beschreibt Nick Jue den Transformationsprozess, den er als damaliger CEO bei ING in den Niederlanden verantwortet hat. „Wenn man aber den Prozess mit der Idee startet, sich um 50 Prozent zu verbessern, kommt man bei um die 40 Prozent raus – ein ganz anderes Ergebnis als bei dem anderen Ansatz.“
Angeleitet unter anderem von den Unternehmensberatungen Boston Consulting Group und McKinsey hat die ING also ihre gesamte Struktur in Frage gestellt. Sie haben sich Beispiele aus anderen Branchen angeschaut und sich nach dem Baukastenprinzip ein eigenes Modell für die Zusammenarbeit im Unternehmen erarbeitet, das dann nach Trial-and-Error-Prinzip getestet und evaluiert wurde. Es wurde top-down kommuniziert und angefangen, die Mitarbeiter in agilen Methoden auszubilden.
Ein Drittel der Belegschaft hat Berichten zufolge den Wechsel nicht mitgemacht – ob freiwillig oder Kündigung, ist nicht bekannt.
Insgesamt 900 Millionen Euro flossen für die Transformation der ING zu einer echten agilen Organisation. Die pfiffigen Vorstände wussten dabei auch nicht, in welche Richtung sie sich ändern müssen, aber sie wussten: Wir brauchen eine Organisation, in der wir uns als Dickschiff überhaupt ändern können.
In den neuen interdisziplinären Squads beispielsweise sind alle Humanressourcen bereits vorhanden, um eine Aufgabe umzusetzen. Die Teams können schneller auf Kundenbedürfnisse reagieren, die sich in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit verändern, mit der herkömmliche Abteilungen schlicht überfordert sind.
Ein Unternehmen wie ING erhofft sich, dass die Organisationsstruktur hierdurch unbürokratischer wird, und nicht zuletzt erhebliche Kosteneinsparungen dadurch, dass man nicht mehr so lange Abstimmungs- und Entwicklungsprozesse hat, weniger Meetings, weniger produzieren und arbeiten „für die Tonne“. Gleichzeitig soll mehr Raum gemacht werden für Eigeninitiative und selbständiges, kreatives Arbeiten. Dabei wissen die Vorstände auch, dass sie nichts „geschafft“ oder „abgeschlossen“ haben, sondern dass eine agile Transformation ein ständiger Prozess der Weiterentwicklung ist und dass eine neue Unternehmenskultur nicht mal eben gelernt werden kann.
Ein Agile-Berater, der an dem Change-Prozess bei ING beteiligt war, hat in einem Whitepaper die Determination des gesamten Managements als wichtigsten Faktor für den Erfolg der Transformation bezeichnet. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Digitalprodukte der ING heute am Markt als äußerst benutzerfreundlich auf höchstem Niveau gelten. Tribe-Leader der ING erklären öffentlich stolz, dass ihre Produkte heute schneller auf den Markt gebracht werden können und dass Richtungswechsel wenn nötig viel schneller vonstatten gehen. Die Kosten dürften dadurch merklich gesunken sein.
Ex-Niederlande-CEO Jue ist inzwischen übrigens Chef der deutschen ING DiBa[efn_note]…die ja mittlerweile nicht mehr ING DiBa, sondern auch in Deutschland einfach ING heißt.[/efn_note] und hat begonnen, den Transformationsprozess hier ebenfalls durchführen. „Seit Anfang August arbeiten rund ein Viertel aller Mitarbeiter in Deutschland in der neuen Struktur“, erzählt er im Gespräch mit GOLDILOCKS[efn_note]Das gesamte Interview lesen Sie auf Seite 7 dieser Ausgabe.[/efn_note], „und im Sommer des nächsten Jahres soll der Wandel abgeschlossen sein.“
Dieser Text ist die Titelgeschichte in der dritten Ausgabe von GOLDILOCKS, dem Digitalmagazin von finletter mit dem Sparkassen Innovation Hub. Abrufen können Sie die Ausgabe hier. Und die App zum Magazin gibt’s kostenlos für iOS und Android.